Mit einem Griff


Zufallsexperimente können aus einfachen Zufallsexperimenten, die in einer bestimmten Reihenfolge ablaufen, zusammengesetzt sein. Sie werden in diesem Fall mehrstufige Zufallsexperimente genannt.
Und manchmal läßt sich ein Zufallsexperiment "übersichtlicher" darstellen, wenn man es durch ein mehrstufiges Zufallsexperiment ersetzt.

Es ist aber auch die umgekehrte Richtung möglich: Werden etwa bei einem mehrstufigen Zufallsexperiment Kugeln nacheinander und ohne Zurücklegen aus einer Box gezogen, so kann dies durch ein gleichzeitiges Ziehen aller Kugeln, d.h. ein Ziehen "mit einem Griff", ersetzt werden.

Dieses Ersetzen mag auf einen ersten Blick hin als "plausibel" erscheinen, ist aber keineswegs selbstverständlich und de facto ein anderes reales Zufallsexperiment. Dass aber ein Ersetzen gerechtferigt ist, lässt sich bei etwas genauerer Betrachtung erklären.

Dazu starten wir mit folgendem Beispiel: Eine Box enthält vier blaue, zwei gelbe und eine grüne Kugel. Zusätzlich sind alle Kugeln nummeriert, sodass die Zusammensetzung wie folgt aussieht:

1 2 3 4 5 6 7

Es werden insgesamt zwei Kugeln ohne Zurücklegen gezogen, d.h. jede gezogene Kugel wird nicht mehr in die Box zurückgelegt.

Der gesamte Grundraum besteht aus insgesamt 7 ⋅ 6 = 42 Paaren:

1 2   2 7   4 6   6 4
1 3   3 1   4 7   6 5
1 4   3 2   5 1   6 7
1 5   3 4   5 2   7 1
1 6   3 5   5 3   7 2
1 7   3 6   5 4   7 3
2 1   3 7   5 6   7 4
2 3   4 1   5 7   7 5
2 4   4 2   6 1   7 6
2 5   4 3   6 2      
2 6   4 5   6 3      

Betrachten wir zunächst das Ereignis "beim ersten Zug eine blaue Kugel":
Von den insgesamt 42 Paaren ist bei genau 24 Paaren eine blaue Kugel an der ersten Position − diese Paare besitzen in der folgenden Tabelle einen gefärbten Hintergrund:

1 2   2 7   4 6   6 4
1 3   3 1   4 7   6 5
1 4   3 2   5 1   6 7
1 5   3 4   5 2   7 1
1 6   3 5   5 3   7 2
1 7   3 6   5 4   7 3
2 1   3 7   5 6   7 4
2 3   4 1   5 7   7 5
2 4   4 2   6 1   7 6
2 5   4 3   6 2      
2 6   4 5   6 3      

Es gilt also: P(beim ersten Zug eine blaue Kugel) = (24/42)

Interessiert man sich nun für jene Fälle, in denen beim ersten Zug eine blaue Kugel und beim zweiten Zug eine gelbe Kugel gezogen wird, so verbleiben von den zuvor ausgewählten 24 Paaren noch genau 8 Paare, die diese Eigenschaft erfüllen:

1 2   2 7   4 6   6 4
1 3   3 1   4 7   6 5
1 4   3 2   5 1   6 7
1 5   3 4   5 2   7 1
1 6   3 5   5 3   7 2
1 7   3 6   5 4   7 3
2 1   3 7   5 6   7 4
2 3   4 1   5 7   7 5
2 4   4 2   6 1   7 6
2 5   4 3   6 2      
2 6   4 5   6 3      

Dadurch ergibt sich: P(beim ersten Zug eine blaue Kugel und beim zweiten Zug eine gelbe Kugel) = (24/42) ⋅ (8/24) = (8/42)

Äußerst interessant wird es aber, wenn man nun jene Fälle, in denen beim ersten Zug eine gelbe Kugel und beim zweiten Zug eine blaue Kugel gezogen wird, näher betrachtet:
Dazu werden von den insgesamt 42 Paaren zunächst jene Paare, bei denen eine gelbe Kugel an der ersten Position ist, ausgewählt:

1 2   2 7   4 6   6 4
1 3   3 1   4 7   6 5
1 4   3 2   5 1   6 7
1 5   3 4   5 2   7 1
1 6   3 5   5 3   7 2
1 7   3 6   5 4   7 3
2 1   3 7   5 6   7 4
2 3   4 1   5 7   7 5
2 4   4 2   6 1   7 6
2 5   4 3   6 2      
2 6   4 5   6 3      

Genau 12 Paare erfüllen diese Eigenschaft, d.h. es gilt: P(beim ersten Zug eine gelbe Kugel) = (12/42).
Und von diesen 12 Paaren gibt es nun genau 8 Paare, die an der zweiten Position eine blaue Kugel besitzen:

1 2   2 7   4 6   6 4
1 3   3 1   4 7   6 5
1 4   3 2   5 1   6 7
1 5   3 4   5 2   7 1
1 6   3 5   5 3   7 2
1 7   3 6   5 4   7 3
2 1   3 7   5 6   7 4
2 3   4 1   5 7   7 5
2 4   4 2   6 1   7 6
2 5   4 3   6 2      
2 6   4 5   6 3      

Somit gilt: P(beim ersten Zug eine gelbe Kugel und beim zweiten Zug eine blaue Kugel) = (12/42) ⋅ (8/12) = (8/42)

Besitzt eine Box nun genau a blaue, b gelbe und c grüne Kugeln (und damit insgesamt a + b + c Kugeln), so gibt es bei zwei Ziehungen ohne Zurücklegen − und mit verschiedenen Zahlen nummerierten Kugeln − insgesamt (a + b + c) ⋅ (a + b + c − 1) mögliche Paare.

Genau a ⋅ (a + b + c − 1) Paare haben eine blaue Kugel an der ersten Position, wodurch man für das Ereignis "beim ersten Zug eine blaue Kugel" eine Wahrscheinlichkeit von (a ⋅ (a + b + c − 1)) ÷ ((a + b + c) ⋅ (a + b + c − 1)) erhält.
Nun besitzen von diesen a ⋅ (a + b + c − 1) Paaren mit einer blauen Kugel an der ersten Position genau a ⋅ b Paare eine gelbe Kugel an der zweiten Position.
Dadurch ergibt sich für das Ereignis "beim ersten Zug eine blaue Kugel und beim zweiten Zug eine gelbe Kugel" eine Wahrscheinlichkeit von (a ⋅ b) ÷ ((a + b + c) ⋅ (a + b + c − 1)).

Umgekehrt besitzen genau b ⋅ (a + b + c − 1) Paare eine gelbe Kugel an der ersten Position, wodurch sich für das Ereignis "beim ersten Zug eine gelbe Kugel" eine Wahrscheinlichkeit von (b ⋅ (a + b + c − 1)) ÷ ((a + b + c) ⋅ (a + b + c − 1)) einstellt.
Und von diesen b ⋅ (a + b + c − 1) Paaren mit einer gelben Kugel an der ersten Position haben genau b ⋅ a Paare eine blaue Kugel an der zweiten Position.
Somit erhält man für das Ereignis "beim ersten Zug eine gelbe Kugel und beim zweiten Zug eine blaue Kugel" eine Wahrscheinlichkeit von (b ⋅ a) ÷ (a + b + c) ⋅ (a + b + c − 1).

Dies bedeutet aber: P(beim ersten Zug eine blaue Kugel und beim zweiten Zug eine gelbe Kugel) = P(beim ersten Zug eine gelbe Kugel und beim zweiten Zug eine blaue Kugel)

Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle der Umstand, dass sich in beiden Fällen ("zuerst eine blaue Kugel und danach eine gelbe Kugel" bzw. "zuerst eine gelbe Kugel und danach eine blaue Kugel") am Ende der beiden Ziehungen − trotz Auswahl unterschiedlicher Paare nach der ersten Ziehung − die gleiche Wahrscheinlichkeit ergibt.

Durch ähnliche Überlegungen gelten übrigens auch:

P(beim ersten Zug eine blaue Kugel und beim zweiten Zug eine grüne Kugel) = P(beim ersten Zug eine grüne Kugel und beim zweiten Zug eine blaue Kugel)

sowie

P(beim ersten Zug eine gelbe Kugel und beim zweiten Zug eine grüne Kugel) = P(beim ersten Zug eine grüne Kugel und beim zweiten Zug eine gelbe Kugel)

Und genau diese Identitäten gestatten es, ein mehrstufiges Zufallsexperiment, bei dem die Kugeln nacheinander und ohne Zurücklegen aus einer Box gezogen werden, durch ein Zufallsexperiment, bei dem alle Kugeln gleichzeitig, d.h. "mit einem Griff" gezogen werden, zu ersetzen.