Das Haltestellenbeispiel


Fast schon ein Klassiker für den Einstieg in die Materie der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist das Haltestellenbeispiel:

Ein Student wohnt in der Nähe einer Haltestelle einer Lokalbahn, die in der einen Richtung zur Universität und in der anderen Richtung zu seiner Freundin führt. Der Student, für den beide (!) Orte gleich anziehend sind, möchte morgens ungefähr gleich oft zur Freundin bzw. zur Uni fahren.
Um dies zu erreichen, wählt er folgendes Zufallsexperiment:
Da die Lokalbahn in beiden Richtungen jeweils in einem Abstand von zehn Minuten verkehrt, geht er nach dem Aufstehen zu einem zufälligen Zeitpunkt zur Haltestelle und nimmt die nächste eintreffende Lokalbahn.
Allerdings stellt der Student zum Ende des Semesters fest, daß er meist zur Freundin gefahren ist.

Wie ist dieses Phänomen zu erklären ?

Fährt etwa die Lokalbahn in Richtung Universität jeweils drei Minuten nach der Lokalbahn in Richtung der Freundin, so erhält man folgendes Wartezeitmodell:

Zeit Richtung Max. Wartezeit --> F Max. Wartezeit --> U
0 Freundin
3 Universität 3 Minuten
10 Freundin 7 Minuten
13 Universität 3 Minuten
20 Freundin 7 Minuten
23 Universität 3 Minuten
30 Freundin 7 Minuten
33 Universität 3 Minuten
40 Freundin 7 Minuten
43 Universität 3 Minuten
50 Freundin 7 Minuten
53 Universität 3 Minuten
60 Freundin 7 Minuten
  Summe: 42 Minuten 18 Minuten

Die Wahrscheinlichkeit, mit der nächsten eintreffenden Lokalbahn zur Freundin zu gelangen, verhält sich in diesem Modell zur Wahrscheinlichkeit, zur Universität zu gelangen, wie 42:18 bzw. wie 7:3.

Es gilt somit:

P(nächste Lokalbahn fährt in Richtung Freundin) = (7/10)

und

P(nächste Lokalbahn fährt in Richtung Universität = (3/10).

Bemerkenswert ist an dieser Stelle, daß das im Beispiel angegebene und für beide Fahrtrichtungen geltende Abfahrtsintervall von zehn Minuten für die Berechnung der gesuchten Wahrscheinlichkeit überflüssig ist.
Fährt nämlich die Lokalbahn in Richtung Universität jeweils sechs Minuten nach der Lokalbahn in Richtung der Freundin, so erhält man bei einem Abfahrtsintervall von zehn Minuten für beide Fahrtrichtungen für obiges Wartezeitmodell folgende Werte:

Zeit Richtung Max. Wartezeit --> F Max. Wartezeit --> U
0 Freundin
6 Universität 6 Minuten
10 Freundin 4 Minuten
16 Universität 6 Minuten
20 Freundin 4 Minuten
26 Universität 6 Minuten
30 Freundin 4 Minuten
36 Universität 6 Minuten
40 Freundin 4 Minuten
46 Universität 6 Minuten
50 Freundin 4 Minuten
56 Universität 6 Minuten
60 Freundin 4 Minuten
  Summe: 24 Minuten 36 Minuten

Nun gilt:

P(nächste Lokalbahn fährt in Richtung Freundin) = (24/60) = (2/5).

und

P(nächste Lokalbahn fährt in Richtung Universität = (36/60) = (3/5).

Wichtig ist vielmehr der zeitliche Abstand zweier aufeinanderfolgender, in verschiedene Richtungen abfahrender Lokalbahnen.
Beträgt nämlich die maximale Wartezeit für eine Lokalbahn in Richtung der Freundin vier Minuten und für eine Lokalbahn in Richtung der Universität sechs Minuten, so wird der Student bei zufälligem Eintreffen an der Haltestelle in rund 40 % (genauer: in 4/(4+6)) aller Fälle in eine Lokalbahn in Richtung der Freundin einsteigen.

Bezeichnet man also mit a die maximale Wartezeit für eine Lokalbahn in Richtung der Freundin und mit b die maximale Wartezeit für eine Lokalbahn in Richtung der Universität, so erhält man:

P(nächste Lokalbahn fährt in Richtung Freundin) = a/(a+b)

und

P(nächste Lokalbahn fährt in Richtung Universität = b/(a+b).

Der Student fährt also bei tatsächlich zufälligem Eintreffen an der Haltestelle genau dann annähernd gleich oft zu Freundin bzw. Universität, wenn a = b gilt. In diesem Fall ist das Zeitintervall zweier aufeinanderfolgender, in verschiedene Richtungen fahrender Lokalbahnen genau halb so groß wie das − für beide Fahrtrichtungen geltende − Zeitintervall zweier aufeinanderfolgender, in die gleiche Richtung fahrender Lokalbahnen.