Bescheidener Wunsch


Die wohl berühmteste Legende um die Entstehung des Schachspiels stammt aus alten arabischen Quellen. Danach soll der brahmanische Weise Sissa ibn Dahir das Schachspiel zur Belehrung seines tyrannischen Herrschers Shihram erfunden haben, um ihm den Wert seiner Untertanen zu verdeutlichen.
Der Herrscher lernte das Spiel und gewährte Sissa aus Dankbarkeit für seine Erleuchtung einen freien Wunsch.

Der kluge Mann gab sich "bescheiden" und wünschte sich Weizenkörner:
Für das erste Feld des 64 Felder umfassenden Schachbrettes wünschte er sich 1 Weizenkorn, für das zweite Feld 2 Körner, für das dritte Feld 4 Körner usw., d.h. für jedes folgende Feld genau doppelt so viele Weizenkörner wie für das vorhergehende.

Der Herrscher lachte über diesen Wunsch und ließ ein Säckchen Weizenkörner bringen. Er staunte jedoch nicht schlecht, als dieses Säckchen schneller als gedacht leer war. Er ließ weitere Säckchen, Säcke und ganze Wagenladungen heranschaffen, um schließlich kleinlaut eingestehen zu müssen, daß er den Wunsch des klugen Erfinders nicht erfüllen könne.
Dies erscheint zunächst unwahrscheinlich. Ein Blick in die folgende Tabelle zeigt jedoch die Unerfüllbarkeit dieses Wunsches:

Feld Weizenkörner Gesamtzahl
1 1 1
2 2 3
3 4 7
4 8 15
5 16 31
10 521 1023
20 524288 1048575
30 536870912 1073741823
40 549755813888 1099511627775
50 562949953421312 112589990684262
60 576460752303423488 1152921504606846975
64 9223372036854775808 18446744073709551615

Die Anzahl der Weizenkörner auf den einzelnen Feldern des Schachbretts gehorcht einer geometrischen Folge der Form <b1, b1q, b1q2, ...> mit dem Anfangswert b1 = 1 und dem Quotienten q = 2.

Da eine endliche geometrische Reihe mit dem Anfangswert b1 und dem Quotienten q die Summe (qn − 1)/(q − 1) besitzt, erhält man für die Summe der Weizenkörner auf den ersten n Feldern des Schachbrettes den Wert 2n − 1.

Für das gesamte, aus 64 Feldern bestehende Schachbrett benötigt man daher 18 446 744 073 709 551 615 Weizenkörner.
Legt man die Masse eines Weizenkorns mit 0,05 g fest, so ergeben sich für diese Weizenkörnerzahl folgende Interpretationen:

  1. Ein mit dieser Menge beladener Güterzug würde bei einer Ladekapazität von 20 t pro Waggon und einer Geschwindigkeit von 80 km/h rund 570 Jahre benötigen, um einen bestimmten Punkt zu passieren.
  2. Alle Waggons würden hintereinander aufgestellt mehr als 10.000 Mal um den Erdäquator reichen.
  3. Bei einer Bevölkerungszahl von 6 Mrd. Menschen würde jeder Erdbewohner eine Menge von rund 154 Tonnen Weizen erhalten.

Interessant wäre noch die Frage, wie sich der Herrscher Shihram aus der Affäre gezogen hat. Doch darüber ist offensichtlich nichts überliefert.